Ermatinger Stedi:
400 Jahre Geschichte und Wandel erleben
Die Stedi in Ermatingen, ein zentraler Begegnungsort der Gemeinde, wurde kürzlich umfassend saniert und modernisiert. Mit einem neuen Bootshafen, Gästeplätzen, einer Anlegestelle für Kursschiffe und vielfältigen kulinarischen Angeboten in direkter Umgebung lädt sie Einheimische und Besucher gleichermassen zum Verweilen ein.
Die Geburt der Stedi: Ein Protest und seine Geschichte
Die Geschichte der über 400-jährigen Stedi beginnt mit einem Triboltinger Protest. In einem Brief von 1606, der im Bürgerarchiv Ermatingen aufbewahrt wird, heisst es: «Stedj gebowen». Die Ermatinger hatten dafür Eichen im Zwingwald gefällt, was die Triboltinger empörte. Beide Gemeinden teilten das Brennholz des Waldes, das entsprechend der Haushaltszahl aufgeteilt wurde. Absprachen über die Nutzung des Holzes – sei es für den Bau von Häusern, Brücken oder einer Stedi – waren üblich. Doch in diesem Fall ignorierten die Ermatinger das Mitspracherecht ihrer Nachbarn. Die Triboltinger forderten deshalb eine «Schadloshaltung».
Dieser Protest führte wohl dazu, dass die Geburtsstunde der Ermatinger Stedi urkundlich dokumentiert wurde – ein Umstand, der ihre Geschichte bis heute lebendig hält. Doch warum wurde die Stedi überhaupt gebaut? Die Antwort liegt in den flachen Uferzonen des Bodensees. Diese sogenannten «Wissi» oder «Wisse» erschwerten es grossen Lastenseglern, den sogenannten Ledinen, bis ans Ufer zu fahren. Stattdessen ankerten die Schiffe an einer «Stell» oder «Stelli», einer tieferen Stelle am Rand der Flachwasserzonen. Von dort wurden die Waren – etwa Weinfässer – mit kleineren Booten wie den Segnern, darunter die heute noch gut erhaltene «Kathry», mühsam ans Land gebracht oder umgekehrt verladen. Ein zeitaufwändiger und kraftraubender Prozess, der den Bau der Stedi notwendig machte.
Vom Schutz der Stedi: Dä Hoogge und die Kraft der Natur
Mit dem steigenden Warenvolumen wurde klar: Wenn die Schiffe nicht ans Land fahren können, muss das Land zu den Schiffen gebracht werden. So entstanden im 16. und 17. Jahrhundert rund um den Bodensee zahlreiche «Stedi». Der Begriff stammt vom althochdeutschen Stedir und bedeutet Landungsplatz. Ein Relikt dieser Zeit ist das Restaurant Zum Stedi Wirt in Nonnenhorn am bayrischen Ufer.Die Ermatinger Stedi war jedoch den Naturgewalten ausgesetzt: Hochwasser, Stürme und «Seegfrörnen» mit grossen Eisschollen setzten den Eichenpfählen stark zu. Im März 1779 beschloss der Gemeinderat daher, westlich der Stedi einen Wellenbrecher aus einer zweireihigen Pfahlkonstruktion, genannt «Dä Hoogge», zu errichten. Das Projekt wurde von der Gemeindeversammlung gutgeheissen und umgesetzt. Die Konstruktion blieb bis 1976 bestehen, als die Pfähle einem neuen Wellenbrecher weichen mussten. Doch dieser schadete mehr, als er nützte, und wurde 1994 durch eine verbesserte Version ersetzt, die inzwischen einem weiteren Neubau Platz gemacht hat.
Die Reparatur von 1783: 100 Eichen und ein Streit
Im Protokoll des Gemeinderates heisst es dazu: «Ist erkannt worden, es solle mit ihm nebst einem Holzforster und Holzschauer auslesen und zu diesem Bau anzeichnen, so viel wie nötig sei, sie mögen stehen, wo sie wollen, jedoch an Orten, wo es am wenigsten schädlich seye.» Am 21. Dezember 1783 wurde Schümperli schliesslich «einmüthig als Stedibauer anerkenth und bestätigt».
Dieses Mal informierten die Ermatinger die Triboltinger über die hundert Eichen, die aus dem gemeinsamen Zwingwald geschlagen wurden. Das Reichenauer Oberamt, die oberste gesetzliche Instanz über den Zwingwald, wies die Ermatinger an, die Triboltinger zu «trösten» beziehungsweise zu entschädigen. Wie diese Entschädigung ausfiel, ist nicht überliefert.
Ermatingen 2021, Hans Herzog-Seitzer
redigiert 2024
Holz für die Stedi: Wie die Bürger über sich selbst stritten
Im Protokoll der Bürgergemeinde vom 17. Februar 1864 heisst es: «Wird von der jetzigen Bürgergemeinde mit, weil jetzt Ortssache, der Ortsgemeinde zur Entscheidung überwiesen.» Am 2. März 1865 beschloss der Verwaltungsrat der Bürgergemeinde: «Im Falle die Erstellung einer Landungsbrücke nach dem vorliegenden Projekte beliebt, soll das Holz dazu von der Gemeinde unentgeltlich geliefert werden.» Doch die Bürgergemeinde lehnte es nach hitziger Debatte ab, das Holz kostenlos zur Verfügung zu stellen. Grund für die Ablehnung war wohl der Unmut, dass nun auch ehemalige Hintersassen über Gemeindebelange mitbestimmen durften. Dabei übersahen die Kritiker, dass sie selbst die Mehrheit der Ortsgemeinde ausmachten und mit ihrer Ablehnung letztlich das eigene Holz mitfinanzierten.
Am 6. März 1866 kam es schliesslich zu einem versöhnlichen Beschluss: «Es wird beschlossen, der Ortsgemeinde für Holz zum neuen Steg nichts anzurechnen.»
Ermatingen 2021, Hans Herzog-Seitzer
redigiert 2024
Vom Holzbau zum Damm: Die Geburt der modernen Stedi
Das Projekt geriet jedoch zum finanziellen Desaster: Statt der veranschlagten 41’000 Franken beliefen sich die Kosten auf über 64’000 Franken. Die massive Kostenüberschreitung führte zu Streitigkeiten zwischen der Gemeinde und dem Unternehmer, die erst durch ein Schiedsgericht beigelegt wurden. Der Kanton beteiligte sich mit einem Viertel der Kosten, wie ein Regierungsratsbeschluss von 1914 zeigt.
In den 1920er-Jahren wurde der neue Damm, der fortan auch als Stedi bezeichnet wurde, erstmals verbreitert. 1987 gab es erneut Diskussionen über eine Renovation, die eine leichte Erhöhung bis zur Schiffanlegestelle vorsah. Doch der Widerstand im Dorf war so gross, dass die Gemeinde das Projekt für weitere zwei Jahrzehnte ruhen liess.
Ermatingen 2021, Hans Herzog-Seitzer
redigiert 2024
Ein Jahrhundertprojekt: Die Entstehung der neuen Stedi
Im November 2013 stellte der Gemeinderat an der Budgetgemeindeversammlung ein Grobkonzept vor, dessen Kern ein intensiver Einbezug der Bevölkerung war – unter anderem durch eine Umfrage. 2015 bewilligten die Stimmbürger einen Planungskredit für einen Studienauftrag. 2016 entschied sich eine Jury für das Projekt «Fernsicht», das auch die Bevölkerung überzeugte: Am 27. Februar 2018 stimmten 197 Bürger mit Ja, 14 mit Nein (5 enthielten sich) für den Bau der neuen Stedi zu Kosten von rund 6,7 Millionen Franken.
Die Bauarbeiten begannen im Frühjahr 2019 mit dem Abbruch des alten Wellenbrechers, der durch einen neuen ersetzt wurde. Im Jahr 2021 war das Jahrhundertprojekt mit allen zugehörigen Anlagen fertiggestellt. Die Einweihung, ursprünglich für 2021 geplant, musste pandemiebedingt auf den Frühsommer 2022 verschoben werden. Heute steht Ermatingen stolz vor seiner neuen Stedi – eine Stedi für das 21. Jahrhundert.
Ermatingen 2021, Hans Herzog-Seitzer
redigiert 2024